Bielbericht

Schachfestival Biel 2023

Bericht von Hans-Jürgen Weyer, 01.08.2023

Nach coronabedingten Unterbrechungen und im letzten Jahr einem Aussetzen wegen terminlicher Überschneidungen spielte ich nun nach einer dreijährigen Pause wieder beim Bieler Chessfestival mit. Wunderbar. Wie ich mich freute. Doch wie sollte es werden nach einem so langen Aussetzen?

Hinfahrt und Ankunft
Fangen wir mit der Hinreise an. Für einmal im Jahr in die Schweiz zu fahren, kaufe ich mir keine Vignette. Also fahre ich auf der Landstraße nach Biel und vertraue seit etlichen Jahren meinem Navi. Und nun ein Lob auf das Navi in meinem (neuen) Auto. Ich weiß, dieses Navi genießt in Kreisen der ersten Mannschaft nicht den besten Ruf (es gab da mal einen winzigen Schlenker). Mein früheres Navi (in einem französischen Auto!) lotste mich auf dem Weg nach Biel bis zum Ende der deutschen Autobahn östlich an Basel vorbei, mein neues Navi (in einem deutschen Auto!) wies mir den Weg über Frankreich, so dass ich von Westen her Biel erreichte. Eine wunderbare Strecke! Ich durchquerte das französische und das schweizer Juragebirge mit großartigen Ausblicken, krassen Felsen, steilen Hängen, tiefen Schluchten, schmalen Straßen - ein wirkliches Erlebnis! Ein Hoch auf mein Navi! In Biel angekommen begann es jedoch mit einer Katastrophe. Mein heiß geliebtes Lokal "Der Pfauen" in der Altstadt gab es nicht mehr! Mit blankem Entsetzen sah ich die schwarzen Scheiben, die leeren Kästen ohne Speisekarten. Keine Tische, keine Stühle. Erinnerungen an viele schöne Stunden unter den Arkaden mit Blick auf den Altstadtplatz übermannten mich. Erinnerungen an den unvergleichbaren Chassler (einem einheimischen Wein), an Röstis und manch andere Köstlichkeiten ließen mich in tiefer Trauer und verstört in völliger Ungewissheit, wie es denn nun weitergehen soll, zurück. Das konnte kein gutes Omen sein?!

Die Turniere
Erstmals seit vielen Jahren wurden wieder drei offene Turniere angeboten. Im Masterturnier (ab Elo 2050, 10 Runden mit verlängerter Bedenkzeit) spielten 99 Teilnehmer mit. Eine gute Zahl, doch einige, auch Großmeister, zogen sich bereits früh zurück. Insgesamt tummelte sich eine große Zahl an Großmeistern und weiteren Titelträgern im MTO, von denen mir jedoch die allermeisten nicht bekannt waren. Sieger wurde der Chinese Bu, der bereits vor vielen Jahren im MTO dabei war (ich damals auch). Im Hauptturnier für Spieler zwischen ELO 1.700 und 2.050 spielten nur 43 Spieler die neun Runden, eine wohl eher enttäuschende Zahl. Bei meiner allerersten Teilnahme gab es auch drei Turniere und ich spielte damals auch im HTO mit. Schon im Folgejahr wurden die Teilnehmer auf das MTO und das ATO aufgeteilt. Ob sich der "Dreiklang" angesichts der eher schwachen Beteiligung im HTO durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Ich hatte mich angesichts meiner sinkenden Elozahl entschlossen, im Allgemeinen Turnier ATO mitzuspielen. Dies war für Spieler bis zu ELO 1.900 vorgesehen bei ebenfalls neun Runden und 77 Teilnehmern. Das Großmeisterturnier war wiederum sehr spannend. Der "Triathlon" aus Schnell- und Blitzpartien sowie Normalschach, deren Ergebnisse am Ende zusammengezählt werden, ist für die Zuschauer sehr attraktiv. Auf der großen Leinwand, auf der die Spiele bestens zu verfolgen sind, war immer etwas los. Der 18-jährige Vincent Keymer, auch in der Schweiz bereits bestens bekannt, kam nach seiner Endrundenniederlage gegen den mitfavorisierten Erigaisi "nur" knapp auf den 2. Platz. Den 1. Platz musste er dem Titelverteidiger Le aus Vietnam überlassen.

Mein Spiel
Im Grunde habe ich gut gespielt (naja, mein PC hat schon milde gelächelt), konnte mich konzentrieren und es kam nur zu einem groben Fehler. Wie so oft bei Turnieren sagt der Endstand nichts über den Verlauf aus. So waren meine Remispartien durchaus hart umkämpft und meine vier Gewinnpartien alle sehenswert. Auch mit den schwarzen Steinen spielte ich recht sicher. An dieser Stelle will ich mich nur auf zwei Begegnungen konzentrieren. Meine schlechteste Partie spielte ich gegen eine Muslima (Muslimin?) aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, eine WFM. Eine junge WFM, gestylt und bis auf das Kopftuch modern gekleidet, mit einer ELO von unter 1.600. Wie kann das sein? Männer brauchen für diesen Titel eine ELO von mindestens 2.300. Und Frauen? Und Frauen aus den VAE? Bei der Begrüßung reichte ich ihr - naiv wie ich bin - die Hand, die sie prompt ausschlug. "We do not shake hands." war ihre lapidare Antwort. Stattdessen wuselte sie ständig mit ihrem extrem voluminösen Kopftuch herum, was nicht nur störte (musste sie ihren Kopfhörer richten?), sondern mich auch in die Wolke ihres wenig reizvollen Parfüms einhüllte. Wie dem auch sei - kaum eine Entschuldigung für meine schlechte Eröffnungsbehandlung. Ich stand schon recht gedrückt, als ich eine Figur einstellte. Bei meiner Aufgabe versuchte ich erst gar nicht, ihr die Hand zu reichen, sondern legte leise und dezent meinen König hin. Meine härteste und längste Partie war die der letzten Runde. Mein Gegner war ein junger 17-jähriger Schweizer, punktgleich mit mir. Sehr ehrgeizig und extrem nervös. Bereits nach wenigen Zügen hatte er die Hälfte seiner Literflasche Biowassers geleert. Ich befürchtete schon, er würde ertrinken. Dann nestelte er ständig mit einem geschlagenen Bauern herum, der ihm immer wieder aus den Händen auf den Tisch oder gar auf den Boden fiel. Am unangenehmsten aber war, dass er seine Fingernägel systematisch bis auf die Ellenbogen abknabberte. Nun, ich kam diesmal mit Weiß gut aus der sizilianischen Eröffnung heraus und hatte bald einen starken Angriff auf seine Königsstellung. Mutig mit den Bauern auf g4 und h4, die bald weiter vorrückten. Doch bei zunehmender Zeitnot (im HTO und ATO hatten wir 90 Min. für 40 Züge, weitere 30 Min. für den Rest der Partie plus 30 Sec. ab den ersten Zug) fand ich keine zwingende Fortsetzung bei meinem Königsangriff. Hätte ich etwas opfern können? So entschloss ich mich, den auf dem Damenflügel auf mein Zugreifen wartenden Bauern einzuheimsen. Durch mehrere Abtäusche endete zwar mein Königsangriff, dafür hatte ich nun einen hübschen Mehrbauern auf dem Damenflügel. Doch nun setzte bei mir wohl die Erschöpfung ein, mehrmals fand ich nur den zweitbesten Zug und erlaubte meinem Gegner, seine verbliebenen Figuren optimal einzusetzen. Noch ganz am Schluss hätte ich statt eines weiteren Abtauschs den König an meinen Mehrbauern heranführen und meinen Gegner in Bedrängnis halten sollen. Doch mit nur noch 2,5 verbliebenen Minuten für den Rest der Partie (mein Gegner hatte noch 19) hatte ich das nicht erkannt - Remis. Dieses Unentschieden hat mich etliche Elopunkte gekostet und mich um einen Preisrang gebracht, den nun mein Gegner eingenommen hat. Meinem Gegner hat das Remis allerdings den Rest seiner Fingernägel gekostet.

Die Zukunft
Ob ich noch einmal in die Schweiz fahren werde, weiß ich nicht. Das Turnier selbst ist großartig, Biel immer eine Reise wert. Aber die Preise steigen ständig und ich werde nicht jünger, so dass mir die nächtliche Hitze immer stärker zusetzt. Ganz schlimm sind die Strapazen der Rückreise, ein einziger Dauerstau und eine einzige große Autobahnbaustelle, sobald man deutschen Boden erreicht hat. Hierüber habe ich mich schon bei meiner ersten Reise 1996 aufgeregt. Wie viele Jahrzehnte soll das noch so bleiben? Das Turnier schloss ich mit +3 ab. Zu Hause zeigte auch meine Waage +3. Mir war es offensichtlich gelungen, den Ausfall des Pfauen zu kompensieren.

Zum Schluss noch ein paar Fotos, zu denen ich durch die Wanderungen der ersten Mannschaft inspiriert worden bin. Auf unseren Wanderungen mag Oliver es nicht, wenn uns die Strecke durch einen Ort oder eine bewohnte Straße führt. Er zieht Feld- und Waldwege vor. Also hier ein Foto für Oliver. Der langgestreckte Hügel am Westufer des Bieler Sees ist der östlichste Ausläufer des Juragebirges, das sich entlang weiter Teile des französisch-schweizerischen Grenzgebietes erstreckt, also auch entlang des südlich des Bieler Sees gelegenen viel größeren Neuenburger Sees. Dieses Gebirge ist nicht besonders hoch (max. 1.700 m), aber äußerst reizvoll und ursprünglich. Und es bietet schier endlose Wandermöglichkeiten nach Norden, Westen und Süden (auch ohne Verlaufen) auf absolut naturbelassenen Wegen. Auch Radfahrer kommen auf ihre Kosten. Prospekte mit Wander- und Radtouren gibt es en masse. Der Weg einmal um den Bieler See herum ist ca. 45 km lang. Zu weit für eine eintägige Wanderung, aber für Radfahrer gut zu machen. So reisen auch viele Schachspieler mit ihren Fahrrädern an und nutzen jeden Gelegenheit (z. B. den freien Tag) für Touren. Erwähnen möchte ich, dass Biel keineswegs eine von Touristen überlaufene Stadt ist. Ohne die Schachspieler wären wohl fast nur Einheimische dort unterwegs. Und nun ein Foto für Ingo. Im Gegensatz zu Oliver mag Ingo es ausgesprochen gerne, wenn unsere Wanderungen schon mal durch ein Dorf führen. Beim Anblick besonderer Häuser, gleich welchen Alters, nur schön müssen sie sein, gerät er jedesmal in Entzücken und ins Schwärmen. Da wäre er in Biel genau richtig. Auf dem Foto ist allerdings nur eine bescheidene Hütte der ärmeren "lower upperclass" zu sehen. Die größeren Villen liegen in den Hängen, verborgen hinter parkähnlichen Vorgärten mit Mauern und Baumbestand. Meist ahnt man sie mehr, als dass man sie sehen oder gar fotografieren könnte. Ich kenne mich da nicht so aus - aber kann es sein, dass es in der Schweiz Milliardäre gibt? Wie dem auch sei, Ingo möge sich diesen Vierteln nicht alleine nähern. Zu groß ist die Gefahr, dass er vor Entzücken in Ohnmacht fällt oder gar dahinschmilzt und in der Kanalisation verschwindet. Ein Foto für Marc B. Das Zerlatschen von Schuhwerk können auch andere. Meine heißgeliebten Sandalen (es ist bereits zu meinem Markenzeichen geworden, auch in Sandalen immer Socken zu tragen), mussten diesmal dran glauben. Es mag als Beweis ausreichen, dass ich fleißig gewandert bin (um ehrlich zu sein, waren es doch eher Spaziergänge). Ein Foto für Klaus. "Feldschlösschen" ist das zumindest in Biel allgegenwärtige Bier. An das man sich allerdings erst gewöhnen muss. Das nimmt zwei Wochen in Anspruch und bedeutet harte Arbeit. Und nach zwei Wochen fährt man schon wieder nach Hause und muss im nächsten Jahr wieder von vorne anfangen.

Und zum Schluss ein Foto für alle. Direkt östlich von Biel liegt am See die Gemeinde Nidau. Die Grenze ist nicht sichtbar, man bemerkt nicht, wann man schon in Nidau und wann man noch in Biel ist. Jedenfalls ist die Gemeinde Nidau schon vor längerer Zeit auf mich und mein Schachspiel aufmerksam geworden. Um mich zu würdigen hat sie eine ihrer Magistralen nach mir und meiner Lieblingsbeschäftigung benannt, worüber ich mich natürlich sehr freue. Mir ist bewusst, dass der Name Interpretationsspielraum lässt. Heißt es nun "Weyersetztmatt" oder "Weyerwirdmatt"? Aber kein Grund zur Aufregung. Wer mich und mein Spiel kennt, weiß was gemeint ist.